Von B. John Zavrel
Der tschechische Regierungschef Petr Necas (rechts) und sein hoher Staatsgast aus Deutschland: Ministerpräsident Horst Seehofer aus Bayern bei seinem Besuch im Dezember 2010 in Prag. Guter Wille vor einem langen Weg der gemeinsamen Verbesserung der bilateralen Beziehungen nach über 60 Jahren.
Prag/München/Berlin (bpb) Der tschechische Regierungschef Petr Necas hat wenige Tage vor Weihnachten 2010 den Bayerischen Ministerpräsidenten Horst Seehofer (CSU) zu einem Meinungsaustausch in der tschechischen Hauptstadt Prag empfangen. Die Begegnung gilt als sensationell. Wegen des jahrzehntelangen Streits um die Vertreibung von über drei Millionen Deutschen aus ihren Heimatgebieten im heutigen Tschechien hat seit Ende des Zweiten Weltkrieges 1945 noch nie ein Bayerischer Ministerpräsident das Nachbarland besucht.
Bayern hat eine besondere Bedeutung bei einer deutsch-tschechischen Versöhnung. Dieses Bundesland hat die Mehrheit der Flüchtlinge aus dem Sudetenland (in der NS-Zeit Sudetengau genannt) nach der Vertreibung aufgenommen. Der Bayerische Ministerpräsident ist traditionell „Schirmherr der Sudetendeutschen", die sich große Verdienste beim Wirtschaftlichen Aufbau in Deutschland erworben haben. Sie sind seit jeher für alle demokratischen Parteien eine wichtige politische Kraft.
Sowohl Necas als auch Seehofer haben sich nach dem Treffen im Amtssitz des Gastgebers, einem Palais am Moldau-Ufer, sehr zurückhaltend geäußert. «Wir wollen jetzt ein neues Kapitel unserer Beziehungen aufschlagen, und dazu haben wir den ersten Schritt getan», sagte Seehofer anschließend. Und Necas erklärte: «Was wir nicht vermeiden konnten, sind die unterschiedlichen Ansichten zur Vergangenheit."
«Wir sind uns einig, dass wir gemeinsam den Blick in die Zukunft richten wollen», betonte Seehofer. Er lud Necas zu einem offiziellen Gegenbesuch in München ein. Bei einer Pressekonferenz in der deutschen Botschaft in Prag erklärte Seehofer. Es sei gelungen, „eine stabile Vertrauensgrundlage zu bauen."
Zu Seehofers Begleitern gehört auch der Sprecher der Sudetendeutschen Volksgruppe und CSU-Europapolitiker, Bernd Posselt. Er ist wie der Bund der Vertriebenen (BdV) in Deutschland ständig Ziel von Vorwürfen aus Tschechien und Polen.
Die Eiszeit ist noch nicht zu Ende
Die Begegnung wurde von politischen Beobachtern auf beiden Seiten sehr begrüßt. Zugleich hieß es, „die Eiszeit ist noch nicht beendet". Tatsächlich gibt es verwirrende Gründe für die schwelenden fundamentalen Spannungen. Das Grundübel ist die Vertreibung und Enteignung von Millionen Deutschen auf der Grundlage der sogenannten Benesch-Dekrete. Diese Dekrete müssten als „Unrecht" aufgehoben werden, fordern seit Ende des Zweiten Weltkrieges Vertriebenenorganisationen sowie deutsche Bundeskanzler der Christlich Sozialen Union. Jede tschechische Regierung lehnte dies jedoch bis heute strikt ab. Sie befürchten offensichtlich, dass die Mehrheit der Bevölkerung für die Dekrete sind, weil diese ihnen viele Vermögen und wirtschaftliche Vorteile gebracht haben und bringen. Nachweislich haben Millionen tschechische Staatsbürger durch die Vertreibung der Deutschen konfiszierte Häuser, Industriebetriebe, Bauernhöfe sowie riesigen Grundbesitz bekommen, der seit Jahrhunderten Deutschen gehörte.
Schloss Hradcany in Prag.
Unrecht auch gegen Juden, Ungarn und Tschechen
Eine Anerkennung dieses politischen Schicksals mit Hunderttausenden toten Deutschen würde jedoch auch weitere „schlimme Wunden" der Vergangenheit aufreißen: die Enteignung jüdischen Besitzes in der ehemaligen Tschechoslowakei und die Forderung nach Entschädigung und Wiedergutmachung der jüdischen Erben aus den USA und Israel an den tschechischen Staat in Milliardenhöhe. Ferner ist die Vertreibung von Ungarn aus der ehemaligen Tschechoslowakei weiterhin noch ein Tabu.
Es gibt offensichtlich ein weiteres dunkles Kapitel, das bisher als inner-tschechische Angelegenheit „unter den Teppich gekehrt" wurde: Die Enteignung tschechischer Bürger sowie die Entrechtung von deutsch-tschechischen Familien. Die Enteignung von Tschechen wurde im kommunistischen Regime von Gottwald fortgesetzt, beklagen heute betroffene ältere Menschen. Sie erheben sogar den Vorwurf, tschechische Autoritäten erkenn bis zum jetzigen Tag nicht einmal internationale Rechts-Sprüche (Justiz-Entscheidungen) an.
Optimisten sehen „guten Willen" auf beiden Seiten
Optimisten in Deutschland und Tschechien sehen „guten Willen auf beiden Seiten". Eine Voraussetzung für die Verbesserung des Klimas seien Wahrheit und Gerechtigkeit. Wie in Deutschland die Nazi-Zeit mit ihren Verbrechen gegen Juden und in besetzten Gebieten aufgeklärt wird, so müssten auch Völkerrechtsverletzungen und Verbrechen in anderen Staaten offen diskutiert werden. Nach Ansicht von Historikern gab es Täter und Opfer bei Siegern und Besiegten.
So kommen nun aus der ehemaligen Tschechoslowakei Nachrichten, dass Studenten und Schüler kritisch nach der Vergangenheit und der Rolle ihrer Väter und Großväter fragen. Selbst die meisten der heute in Tschechien lebenden Menschen ab 50 Jahre kennen aus ihrer Schulzeit nur die kommunistische Propaganda, dass die Vertreibung der Deutschen eine „gerechte Strafe" gewesen sei.
Die Präsidentin des Bundes der Vertriebenen, Erika Steinbach, begrüßte den Besuch Seehofers am 19. und 20. Dezember in Prag- Er „setzt ein richtiges Zeichen", erklärte die CDU-Bundestagsabgeordnete in Berlin. Seehofer habe als Schirmherr der Sudetendeutschen ein Versprechen wahr gemacht.
Presse-Statement der Vertriebenen
In einer in Bonn veröffentlichten Presseerklärung betonte Steinbach: „Dieser Besuch findet in einer Zeit statt, in der sich in Tschechien atmosphärisch viel verändert. Tschechische Regisseure, wie David Vondrá?ek (der neue Preisträger des Franz-Werfel-Menschenrechtspreises,) stehen mit ihrem Wirken für die Aufarbeitung der Vertreibung der Deutschen.
Ehemalige Dissidenten, wie Petr Uhl, sprechen in ihrem Land mutig eine klare Sprache. Bürgerinitiativen, wie die von tschechischen Schülern und Studenten gegründete "Antikomplex" widmen sich den schwierigen Themen der deutsch-tschechischen Geschichte. Im ganzen Land hat eine intellektuelle Auseinandersetzung mit der Vertreibung begonnen.
Der Film "Habermann" unter der Regie des tschechischen Regisseurs Juraj Herz zeigt zutiefst bewegend einen Teil der deutsch-tschechischen Tragödie. Am Ende verlor die gesamte sudetendeutsche Volksgruppe ihre Heimat, verbunden mit brutaler Gewalt und Entrechtung. Der Film zeigt eindrücklich: Niemand war damals ohne Schuld, nicht die Deutschen, nicht die Tschechen, aber nichts rechtfertigte die Vertreibung."
Der BdV will nach eigenen Angaben einen engen Dialog erreiche. Er unterstützt die Absicht Horst Seehofers, mit dem Besuch "die Voraussetzungen für eine noch bessere Nachbarschaft" zu schaffen. „Die Zeiten der Konfrontation sind vorbei und man muss in einem Europa mit offenen Grenzen, dem man gemeinsam angehört, auch anders aufeinander zugehen", forderte Steinbach.
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PROMETHEUS, Internet Bulletin for Art, News, Politics and Science, Nr. 163, January, 2011